PDF-Download
SUCHE, GLÜCK UND DAS AUGE DER FOTOGRAFIN
Anmerkungen zu Jutta Vogels fotografischer Annäherung einer dokumentarischen Poesie

von Jürgen Kisters


„Ich habe immer Fernweh gehabt“, sagt Jutta Vogel. Doch sie musste erst die halbe Welt bereisen, bevor sie die Wüste der Sahara für sich entdeckte. Mit dem ersten Schritt in die Sahara hatte sie das Gefühl, irgendwie angekommen zu sein. Als läge in der weiten Ferne eine Art Heimat, deren Existenz sie so viele Jahre allein als eine Sehnsucht verspürt hatte. Dass der Ort einer Sehnsucht nicht nur in der Fantasie existiert, sondern tatsächlich mit den Füßen zu betreten und mit eigenen Augen zu sehen ist, ist eine Erkenntnis, die sie seitdem in Euphorie versetzt. Damit verbunden ist das Empfinden, sich selber dort näher gekommen als je zuvor und irgendwo sonst im Leben. „Die Wüste besänftigt mich und gibt mir das Gefühl für das Gewicht des Lebens und der Welt“, sagt Jutta Vogel.

Es liegt auf der Hand, dass sie ihr Empfinden in der Wüste, das mit so vielen Glücks- und Erkenntnismomenten verbunden ist, über die Zeit ihrer Anwesenheit in der Wüste bewahren will. Um sich an die die besondere Schönheit atemberaubender Augenblicke zu erinnern. Um bestimmte Einzelheiten in der Wieder-Holung besser zu verstehen. Um der grundsätzlichen Vergänglichkeit im Verstreichen der Zeit ein Schnippchen zu schlagen. Und um anderen Menschen zu zeigen, was sie gesehen hat und das sich durch Worte nicht mitteilen lässt. So ist die Fotografie zu ihrem Medium geworden, und die Kamera zu einer selbstverständlichen Begleiterin bei ihren Reisen in die Wüste. Zu Beginn hatte sie aus einem nahezu kindlichen Staunen beinahe alles fotografiert, um es festzuhalten, um es zu dokumentieren, um sich zu vergewissern, dass all das, was sie sieht, wirklich wahr ist. Doch schon sehr bald entwickelte sich ihr fotografischer Blick, indem sie ruhiger, gelassener, konzentrierter wurde. Die Wüste hat sie gelehrt, genauer zu schauen. Auf die klaren Linien in der Wölbung der Sandlandschaften. Auf die feinen Nuancen des Lichts, die unterschiedliche Gelbtöne auf die Erde malen. Auf die geheimnisvollen Steine, die wie aus dem Nichts in der Landschaft auftauchen und den landschaftlichen Wandel der Gegenwart untrennbar mit dem unumstößlichen Gesetz der Ewigkeit verbinden. So wurde auch ihr fotografischer Blick genauer. Die Wüste hat sie gelehrt, in der Fotografie ebenso still und geduldig zu sein wie beim Erwarten eines Sonnenaufgangs, bei dem alles zu erleben, aber nicht zu erzwingen ist. Man muss, wenn man gute Fotos machen will, in gleich schwebender Aufmerksamkeit auf den glücklichen Moment warten. Und dass ihre Fotografie untrennbar mit dem Erleben von Glück verbunden ist, daran besteht für Jutta Vogel kein Zweifel. Nahezu jeder Aufnahme, die sie macht, liegt ein Glücksgefühl zugrunde. Das Glück, auf einen uralten Baum zu schauen. In einem Stein eine außerordentliche Form zu erkennen. Im Leuchten des Lichtes das Geheimnis des Universums zu erahnen.

Jutta Vogel liebt die Wüste, und sie liebt die Fotografie. Beides gehört in ihrem Leben irgendwie zusammen, abgesehen davon, dass alles irgendwie zusammengehört. Fotografiert hat Jutta Vogel schon immer. Auf allen Reisen, die sie seit dem Jugendalter unternahm, sind Fotos entstanden, spontane Schappschüsse, Erinnerungshilfen, Aufnahmen ohne ein bestimmtes Konzept. Nicht etwa, dass sie durch die Erfahrung der Wüste, diesen einfachen, ungezwungenen Zugang zur Fotografie verändert hätte. Aber mit der Entdeckung ihrer Liebe zur Wüste entdeckte sie die Fotografie insofern neu, als sie seitdem bewusster fotografiert. Das heißt zum Prinzip des Schnappschusses, mit dem sie seit jeher ganz spontan auf die momenthafte Faszination von Beobachtungen reagiert, ist die Form des bewussten komponierten Fotos hinzugekommen. Der Blick auf die scheinbar unendlich feinen, welligen Strukturen, macht es einfach notwendig, den Bildausschnitt sorgfältig zu wählen. Die Kamera ein kleines Stück mehr nach links oder rechts, nach oben oder unten gehalten, verändert das ganze Bild. So lernt sie in der Wüste durch das Fotografieren einiges über die Entsprechung von Naturprozessen und ästhetischen Prozessen, über Harmonie und Brüche, das Gleichgewicht der Farben und Formen, Banalität und Geheimnis, die Unscheinbarkeit und die Präsenz von Einzelheiten.

Meistens ist zuerst das schauende Erleben da, welches das Bedürfnis zu einem Foto hervorbringt. Andere Male hilft das Fotografieren Jutta Vogel beim Schauen in der Wüste, in dem erst die fotografische Absicht sie auf die Fährte bestimmter Spuren bringt. Das Prinzip der Serie und der Wiederholung schärft die Wahrnehmung für kleinste Kleinigkeiten, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Erscheinung der Dinge. In jedem Fall gilt, dass der Blick durch die Kamera sie zu größerer Genauigkeit und zum zweiten Blick fordert. Der Blick durch den Ausschnitt des Kameraauges bedeutet für einen kurzen Moment immer eine Reduzierung der Welt und eine Entscheidung. Dieser Blick sorgt dafür, die Augen auf etwas zu konzentrierten, das sonst vielleicht nur ein flüchtiges Aha geblieben wäre. Er schärft den Sinn für das Wechselspiel von nah- und Fernsicht, Mikro- und Makrostrukturen, Kleinigkeiten und die große Weite. Wie stehen die Felsen zur Ebene? Was passiert am Rand des Schattens? Warum berühren die sanft welligen Sandhügel unweigerlich die Phantasie des menschlichen Körpers? Wie undurchsichtig und fein erscheinen die rissigen Spuren in der steinigen Oberfläche! Und folgt die Lage von verstreuten Steinen möglicherweise einem höheren Sinn? Die scheinbar endlos gleiche Wüste ist voller Schönheiten und Zeichen, Einzelheiten und Unterschiede und Dingen, die für die dort lebenden Menschen lebensnotwendig sind. Immer mehr lernt Jutta Vogel diese Kleinigkeiten erkennen, auch das (Hilfs-)Medium der Fotografie.

Grundlegend für Jutta Vogels fotografisches Verständnis ist, dass sie nichts an den Aufnahmen verändert. Sie drückt auf den Auslöser, das ist alles. Sie benutzt eine einfache analoge Kamera, an den digitalen Möglichkeiten der Fotografie ist sie nicht interessiert. Das liegt zunächst daran, dass sie bei der ihrer vertrauten Kamera bleibt. Zum anderen möchte sie den besonderen Charakter der analogen Kameratechnik bewahren. Denn der fotografische Prozess der analogen Fotografie ist ein gänzlich anderer als der in der digitalen Fotografie. Der Digitalfotograf ist nach einer Aufnahme immer schon bei der nächsten, während die begrenzte Zahl von 36 Aufnahmen auf einem Film bei der analogen Kamera selbst beim schnellen Hintereinander-Fotografieren den Sinn für das einzelne Bild erhält. Die Digitalkamera beschleunigt nicht nur den fotografischen Prozess ungemein, sie banalisiert ihn auch. Nicht nur durch die ungeheure Fülle an Fotos, die durch die große fotografische Speichermenge der Digitalkamera möglich geworden ist, und die während des Fotografierens den Sinn für das einzelne Foto immer mehr Verschwinden lässt. Nicht nur durch die raschen Herstellung der Fotos am Drucker und die Möglichkeit, jedes Foto im Nachhinein am Computer in Konturlinien oder Farben noch zu verändern. Sondern vor allem durch die sofortige Kontrolle des Fotomotivs im Display der Digitalkamera, die alle Magie aus dem fotografischen Prozess heraus nimmt. Das „Bild“ ist sofort sichtbar, und fast im Moment des Machens wird bereits über die „Qualität“ des Fotos entschieden. Für den Digitalfotografen besteht kein zeitlicher Abstand mehr zwischen dem Augenblick des Fotografierens und dem Blick auf das Foto. Für den traditionellen Fotografen mit der analogen Kamera bleibt dagegen bei aller Erfahrung und bei allem Können die Unsicherheit einer gespannten Erwartung wesentlicher Bestandteil des fotografischen Prozesses. Jutta Vogel liebt gerade diese Magie, indem man nach der Aufnahme erst einmal nicht weiß, wie sie tatsächlich geworden ist. Man muss eine Weile warten, bis die belichteten Filmrollen entwickelt und im Labor Abzüge von den Negativstreifen gemacht sind. Die Fotos nicht sogleich, sondern erst nach einigem Abstand zu sehen, ist wie eine zweite Entdeckung dessen, was man zuvor in der Landschaft oder beim Blick auf einen Menschen schon einmal entdeckt hatte. Und diese besondere Magie der traditionellen analogen Fotografie liebt Jutta Vogel beinahe ebenso wie das Fotografieren selber.

Es gibt viele Menschen, welche die Wüste seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fotografiert haben: Forscher, Abenteurer, Entdecker, Künstler und andere feinfühlige Seelen, welche die urzeitlich anmutenden Landschaften ebenso faszinierte wie die darin lebenden Menschen und ihre Kulturformen. Jutta Vogel ist eine weitere von ihnen, und über die längst bekannten fotografischen Perspektiven führt sie ihre eigene Sicht hinzu. Es ist keine spektakuläre Sicht, vielmehr eine Sicht von schlichter fotografischer Direktheit, gleichermaßen belebt von Augenblickskraft des körperlichen Erlebens und einer namenlosen Sehnsucht, die tief aus den unsichtbaren Zonen des eigenen Innern kommt. Jutta Vogel zeigt in ihren Fotografien nicht nur, was sie sieht, sondern ihre ganz persönliche Art, wie sie die Dinge sieht. Ihre Fotografien sind gleichermaßen dokumentarisch und poetisch. Sie sind Ausdruck einer dokumentarischen Poesie. Ausdruck eines Verlangens zu verstehen, während man zugleich anerkennt, dass der Schönheit dieser Landschaften und dieser Menschen für immer ein Geheimnis anhaftet. In diesem Ansatz verbindet sich der starke Wunsch, mit der Landschaft der Sahara und den ihr lebenden Menschen eins werden zu können, mit dem Wissen um eine unüberwindbaren Fremdheit, die jedes einzelne Foto über das jeweilige Motiv hinaus zum Dokument einer Sehnsucht macht.

So individuell Jutta Vogels fotografische Annäherung an die Wüste und ihre Bewohner ist, so sehr verbindet sie auch eine Botschaft damit. Über die Schönheit hinaus sollen die Fotos ein Gespür für die archaischen Ursprünge der Welt vermitteln. Dafür wie klein und unbedeutend der einzelne Mensch gegenüber der Ewigkeit ist. Und dafür, was es heißt, ein Leben zu Leben, dass sich an der Beständigkeit der Sonne und Winde, der Steine und Sandkörner ausrichtet und nicht an den Prinzipien von Steigerung und Innovation. An dieser fotografischen Stelle kommen besonders die Menschen der Wüste ins Spiel, die neben der atemberaubenden Wüstenlandschaft Jutta Vogels zweites zentrales fotografisches Thema sind. Jutta Vogel fotografiert sie in Alltagsszenen und im Portrait, allerdings nie ohne die Menschen zuvor zu fragen. Dementsprechend zeigen ihre Portraits neben den von Sonne, Wind und der Härte des Lebens gezeichneten Gesichtern vor allem den Stolz und die Würde der Wüstenbewohner. Es ist die Jahrtausende alte Kontinuität einer Landschaft und Erfahrung, die in den Fotos sichtbar wird. Und damit werfen die Fotos unweigerlich die Frage auf, wo diese Kontinuität, diese Beständigkeit in der Kultur des Westens geblieben ist.

Köln-Höhenhaus,
im August 2010