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Die Wüste

von Mano Dayak


Die Wüste kann man nicht mit Worten beschreiben. Man muss sie leben. Wie also die passenden Worte für die unbezwingliche Liebe des Nomaden zu seiner Wüste finden? Für Menschen, die nicht in ihr gelebt haben, erscheint sie wie ein großer leerer Raum, während sie für uns unendlich lebendig ist. Wie diese Liebe erklären, die wir unserer so ausgedörrten und schwierigen Umwelt entgegenbringen?

Der Mensch ist immer zutiefst geprägt von der Landschaft, die er bewohnt. Seine ganze Persönlichkeit ist modelliert nach dem Bild dieser Landschaft. Die Wüste liefert das beste Beispiel für diese Anpassung des Menschen, für sein Zusammenwachsen mit seiner Umwelt. Nach dem Bild der Landschaft, in der er lebt, hat sich der Tuareg geformt. Er fordert sich Bescheidenheit ab um zu überleben, aber auch Strenge und Stärke, um sich zu verteidigen. Er weiß, dass er sich der Wüste anpassen muss, sie verstehen, ihr zuhören muss, wenn er in ihr überleben will. Denn die Wüste wird immer stärker sein als der Mensch. Man muss, um hier zu leben, ebensoviel Selbstbescheidung wie Mut aufbringen.

Die Wüste ist für mich außergewöhnlich schön und rein, erschütternd und bezaubernd zugleich. Jedesmal, wenn ich ihr gegenüberstehe, führt sie mich auf die erregende Reise in mein eigenes Ich, in dem wehmütige Erinnerungen, Befürchtungen und Hoffnungen des Lebens miteinander ringen.

Die Wüste ist es, die mich das Zwiegespräch mit der geheimnisvollen Unenendlichkeit lehrte. Die Wüste, das ist das Geheimnis des Windes, der die Dünen vor sich hertreibt und ihnen die seltsamsten Formen mit den reinsten Linien verleiht. Es ist das Geheimnis der Akazie, die verloren inmitten dieser grenzenlosen Sandflächen lebt, wie etwas, das in einer anderen Zeit hier vergessen wurde. Es ist auch das Geheimnis dieser aus dem Nichts auftauchenden Gewitter, die ihre Wassermassen wie Sturzbäche des Lebens niedergehen lassen.

Die Wüste, das sind alle diese Geheimnisse zugleich, viele Ursachen des Erstaunens, die die Liebe der Tuareg zu der Wüste nähren. Für uns Nomaden gibt es nichts Bewegenderes, nichts Fesselnderes auf der Erde als eine Karawane, die sich durch die Unendlichkeit des Sandes windet, nichts, was mehr berührt als die Poesie eines Nomadenlagers am Abend, wenn die Feuer entzündet werden, die Herden heimkehren. Es ist die heilige Stunde, wenn die Dünen und der Himmel von der untergehenden Sonne in Glut getaucht werden und ihre Farben verschmelzen.

Was kann ein Mensch sich noch wünschen, wenn er das Privileg hat, jeden Abend unter einem schützenden Himmel einzuschlafen, unter einem Himmel, der von Millionen Sternen Übersät ist, die leuchten, um seine Träume zu erhellen?

Die Wüste, das ist für uns Nomaden eine tiefe und absolute Leidenschaft, das sind Bilder, die uns zu nehmen selbst der Tod niemals vermögen wird. Die Wüste scheint ihrem Bewohner ewig, und sie schenkt diese Ewigkeit dem Menschen, der sich ihr verbunden fühlt.

Mano Dayak
(1950 – 1995)
Führer der Tuareg-Rebellion im Niger